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Rettet unsere Seelen von Heribert Prantl

SZ am Wochenende, 19.10.2013

Europäische Flüchtlingspolitik

Rettet unsere Seelen
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Von Heribert Prantl

Die Tragödie von Lampedusa hat ein Vorspiel, einen Prolog, wie man das bei einer Tragödie nennt. Dieser Prolog begann vor 22 Jahren, im August 1991, mitten in der italienischen Touristensaison. Zehntausend Flüchtlinge aus dem zerbröckelnden Albanien waren mit dem schrottreifen Frachter Vlora in Süditalien angelandet. In den Straßen von Bari wurden sie von Soldaten gejagt und im Sportstadion eingesperrt. Asylanträge durften nicht gestellt werden. Es gab kein Entkommen, es gab keine Zuflucht, es gab kaum Wasser und Brot, auch nicht für Frauen und Kinder. Kriegsgefangene wären nach der Genfer Konvention besser zu behandeln gewesen. Über den Köpfen der erschöpften Menschen kreisten Militärhubschrauber; später wurden aus der Luft Lebensmittelpakete abgeworfen. Ein Staat war in Panik.

Italien exerzierte ein Exempel der Abschreckung gegen die Menschen aus dem Nachbarland. Was wäre eigentlich, wenn heute der Libanon mit einer Million Flüchtlingen aus dem Nachbarland Syrien auch so umspringen würde wie Italien mit denen aus Albanien? Damals wurden die Flüchtlinge mit List, Tücke und Gewalt nach Albanien zurückgeschafft und dort von prügelnden Polizisten empfangen. Bei den italienischen Behörden herrschte aber eine Erleichterung, als sei die Schlacht auf dem Lechfeld gewonnen. Italien forderte eine europäische Mobilmachung: Militärische Einheiten sollten künftig im adriatischen Meer patrouillieren, um Flüchtlinge schon im Wasser abzufangen. Das hielt man anderswo in Europa für einen Aberwitz. Er wurde aber Realität: Die Abwehr von Flüchtlingen ist heute der einzig funktionierende Teil der EU-Flüchtlingspolitik.

Es gibt in der EU keine einheitlichen Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen; es gibt nichts, was den Namen Schutzkultur verdienen könnte. Zuvorderst die deutschen Bundesregierungen, und zwar jedweder Couleur, haben das verhindert. Es gibt auch keine Lastenverteilung innerhalb Europas. Es gibt allein das gemeinsame Bemühen, Flüchtlinge schnell wieder loszuwerden. Die EU schützt Grenzen, nicht Flüchtlinge. Sie schützt die Grenzen mit Radaranlagen, Hubschraubern und Schiffen. Für die bitteren Details interessiert sich kaum einer - allenfalls ein Verein wie Pro Asyl, der seinen Flüchtlingsgottesdienst unter das Motto von Psalm 69 stellt: "Lass die Tiefe mich nicht verschlingen".

Die EU-Grenzschutzagentur heißt Frontex, und das Meer ist das "Ex" von Frontex. Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der Abschreckungsstrategie. Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa, fragt: "Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden?" Sie ist davon überzeugt, "dass die europäische Einwanderungspolitik Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migration einzudämmen".

Soeben wird das Überwachungssystem an den EU-Außengrenzen aufgerüstet, für 340 Millionen Euro. "Eurosur" heißt das Projekt, European Border Surveillance System: Aufklärungsdrohnen werden dabei eingesetzt und im All stationierte Satelliten. Angeblich soll Eurosur sowohl Migration verhindern als auch Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten. Migration verhindern und Menschen retten: Was bedeutet das für Flüchtlinge? Die Deutsche Welle hat das treffend kommentiert: "Eurosur - dein Feind und Helfer".

Festung Europa: Kaum waren die alten Mauern zwischen Ost und West gefallen, hat Europa damit begonnen, neue Mauern zu bauen. Sie bestehen aus Paragrafen, aus Visasperren und Überwachungstechnik. Die EU schützt sich vor Flüchtlingen, als wären es Terroristen. Man fürchtet sie aber nicht wegen ihrer Waffen; sie haben ja keine. Sie haben nur das Asylrecht, die Waffe der Schwächsten. Man fürchtet sie wegen ihres Triebes: Sie wollen nicht krepieren, sie wollen überleben. Also werden sie behandelt wie Triebtäter und Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa. Man fürchtet sie wegen ihrer Zahl und sieht in ihnen eine Art kriminelle Vereinigung. Deswegen ist aus einer neuen Richtlinie der EU, die Mindestnormen für die Aufnahme von Schutzsuchenden festlegen sollte, im Kern eine Inhaftierungsrichtlinie geworden: Flüchtlinge dürfen zum Schutz der "nationalen Sicherheit und Ordnung" jederzeit inhaftiert werden.

Der Schweizer Journalist und Jurist Beat Leuthardt hat 1994 ein Handbuch "Festung Europa" publiziert. Er musste sich daraufhin von Politikern und Polizeistrategen anhören, dass es eine solche Festung nicht gebe: "Gehen Sie hinaus, schauen Sie sich um in Europa und zeigen Sie uns die angeblichen Opfer dieser Festung Europa." Leuthardt hat das dann getan, er ist an die italienischen, spanischen, weißrussischen und polnischen Ränder Europas gefahren und hat 1999 "Berichte von den Grenzen" geschrieben, von den Schicksalen derer, die auf dem Weg in den goldenen Westen erfroren, erstickt oder ertrunken sind. Damals war das Buch eine Sensation, heute ist das Nachrichtenalltag: Flüchtlinge ersticken in Containern, Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer. Die Festung Europa wird nicht mehr geleugnet, sie wird verteidigt.

Zum Beispiel so: Im Juli 2004 rettete das Schiff Cap Anamur vor der sizilianischen Küste 37 Menschen aus Seenot. Die Behörden verweigerten dem Schiff die Einfahrt in den Hafen von Porto Empedocle auf Sizilien. Erst nach Vortäuschung einer Notlage gelang dem Kapitän die Landung. Die Schiffbrüchigen wurden sofort abgeschoben, die Retter als angebliche Schlepper wegen "Beihilfe zur Einwanderung in einem besonders schweren Fall" angeklagt, der Staatsanwalt beantragte vier Jahre Haft und vierhunderttausend Euro Geldstrafe. Fünf Jahre standen die Retter vor Gericht, bis sie endlich freigesprochen wurden. Einer der Abgeschobenen, Mohammed Yussuf, ertrank bei dem erneuten Versuch, mit einem Boot nach Europa zu gelangen. Man lernt aus dieser Geschichte etwas über Geist und Praxis des europäischen Asylrechts: Wer an schiffbrüchigen Flüchtlingen vorbeifährt und sie ersaufen lässt, ist ein Unmensch. Der Mensch aber, der sie aus dem Meer fischt und an Land bringt, wird als Straftäter verhaftet.

Und auch das gehört zur Verteidigung der Festung: Europa zahlt den nordafrikanischen Ländern viel Geld dafür, dass das Asyl dort hinkommt, wo der Flüchtling herkommt - und kümmert sich nicht darum, was mit den abgeschobenen Flüchtlingen passiert. Rückführungsabkommen sind Abkommen nach dem Motto: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Europa spielt den Pontius Pilatus und wäscht die Hände in Unschuld. Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Berliner Rede von 2007 diese Heuchelei angeprangert: "Europa fischt Afrikas Küsten leer und verweist Kritiker kalt lächelnd auf geschlossene Verträge." Europa schafft Fluchtursachen: Erst macht der Westen die Wirtschaft der Entwicklungsländer kaputt, und wenn die Menschen dann, weil sie nicht verrecken wollen oder einfach ein besseres Leben suchen, aus ihrer trostlosen Heimat fliehen und sich nach Europa durchschlagen, verhöhnt man sie dort als Wirtschaftsflüchtlinge und behandelt sie wie Verbrecher. Verantwortung wird von EU-Politik eigenartig übersetzt - in die Wörter "Frontex" und "Eurosur". Der Hauptfluchtweg für syrische, iranische oder afghanische Flüchtlinge nach Europa verläuft über die Türkei. Doch der Landweg nach Griechenland wird mit Grenzzäunen und High-Tech versperrt. Schutzsuchende müssen die gefährliche Route über das Meer nehmen.

Der Abwehrkampf gegen Flüchtlinge könnte die Ausländerfeindlichkeit in Europa neu auflodern lassen - wie das zuletzt vor 20, 25 Jahren die Anti-Asyl-Kampagne in Deutschland bewirkt hat. Das Flüchtlingsproblem wurde damals auf einen Paragrafen und auf eine einzige Botschaft reduziert: Wer den Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes ("Politisch Verfolgte genießen Asylrecht") ausschaltet, der schaltet das Flüchtlingsproblem aus; wer das Asylgrundrecht beseitigt, rettet das Vaterland. Die Politik der Volksparteien übernahm so die einfachen Antworten, Parolen und Schwarz-Weiß-Bilder, wie sie seit jeher zu den Krisenlösungsperspektiven extremer Parteien gehörten. Zumal die CDU/CSU redete von Flüchtlingen im Katastrophenjargon; "Dammbruch", "Ausländerschwemme" und "Asyltourismus" wurden zu Wahlkampfvokabeln. Man tat so, als sei Flucht eine kreuzfidele Sache und das Asyl den Armen der Welt ein Ersatz für den Jahresurlaub. Die Anti-Asyl-Kampagne hörte auch nicht auf, als die rechtsradikalen "Republikaner" 1989 im Fernsehen, unterlegt mit Ennio Morricones "Spiel mir das Lied vom Tod", gegen Ausländer hetzten - und daraufhin bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 7,5 Prozent der Stimmen gewannen. Im Gegenteil: Die Parteien überboten sich bei scharfen Forderungen.

Es war so vor 25 Jahren: Wer das Grundrecht auf Asyl erhalten wollte, wurde beschimpft. Wer Flüchtlinge Schmarotzer nannte, konnte mit donnerndem Applaus rechnen. Asylrecht und Flüchtlinge waren angeblich an allem schuld, sogar daran, dass Asylbewerberheime und Ausländerwohnungen brannten. Diese Anti-Asyl-Kampagne hat rechtsextremes Gedankengut entstigmatisiert und ein Feindbild präsentiert: Der Asylbewerber, der Wirtschaftsasylant, der Ausländer überhaupt.

Die Anti-Asyl-Kampagne produzierte nicht nur eine gefährliche Mischung von Wut und Angst in der Bevölkerung, sondern 1993 auch eine Grundgesetzänderung, ein Flüchtlingsabwehrrecht, das unter der Bezeichnung "Dublin II" auch zum Kern und zur Mitte des EU-Flüchtlingsrechts wurde: Diese Dublin-Regelung besagt, dass für Asylsuchende der Staat zuständig ist und bleibt, in dem der Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betritt. Diese Regelung war und ist wunderbar für Deutschland: Angesichts seiner soliden Mittellage gingen die Asylbewerberzahlen hierzulande erst einmal rasant nach unten; belastet wurden stattdessen die Randstaaten Griechenland, Italien, Malta, Spanien. Weil das praktisch war für Deutschland, bestand die deutsche Flüchtlingspolitik von da an einzig und allein darin, dieses System zu verteidigen.

2006 war die Zahl der Asylbewerber dann so niedrig, wie seit 30 Jahren nicht mehr: nur 21 029 Menschen haben damals in Deutschland noch Asyl beantragen können, ganze 251 haben den Asylstatus erhalten (Diese niedrigen Zahlen wurden dann als Richtgröße für die künftigen Unterbringungskapazitäten genommen). Angesichts solcher Zahlen sah die deutsche Politik keinen Anlass, über ein gemeinsames EU-Asylrecht, über Lastenverteilung, ein Einwanderungsrecht und Fluchtursachenbekämpfung nachzudenken. Das Dublin-System sei sinnvoll und habe sich bewährt: Das erklärten und erklären deutsche Innenminister immer wieder.

So kam es zu 20 furchtbaren, verlorenen Jahren, zur Agonie der Flüchtlingspolitik - zukunftsverhindernd für Europa, tödlich für die Flüchtlinge. Die Ansätze zu einer gestaltenden Flüchtlingspolitik wurden, weil die Abwehr ja zu funktionieren schien, weggeräumt. Diese Ansätze hatte es gegeben: Da war etwa der Bericht der Arbeitsgruppe "Flüchtlingskonzeption", den Wolfgang Schäuble als Innenminister 1990 vorgelegt hatte, und in dem auch über Fluchtursachenbekämpfung nachgedacht worden war. Zur Fluchtursachenbekämpfung gehört eine restriktive Waffenexportpolitik und eine neue Handelspolitik: Solange EU-Lebensmittel in Afrika billiger sind als einheimische, deswegen die heimische Landwirtschaft zusammenbricht, muss man sich über den Exodus aus Afrika nicht wundern.

Zu den klugen, aber von der Politik weggeräumten Konzepten gehörte vor allem das fabelhafte "Manifest der Sechzig", die große Schrift, in der 60 deutsche Wissenschaftler aller Fachrichtungen 1993 für eine quotierte Einwanderung warben und Regeln dafür vorstellten. Auch eine EU-Konferenz im finnischen Tampere kam dann 1999 zu der Erkenntnis, dass eine Politik des Einmauerns nicht funktionieren könne. Aber diese Erkenntnis wurde wieder vergessen, weil diese Politik ja doch zu funktionieren schien. Die vielhundert Särge von Lampedusa zeigen nun den Preis dieses vermeintlichen Funktionierens. Gleichzeitig bricht das Dublin-System zusammen: Die EU-Randstaaten können und wollen die Lasten nicht mehr tragen; Italien zum Beispiel winkt die Flüchtlinge durch, immer häufiger nehmen italienischen Behörden keine Fingerabdrücke mehr, sodass die EU-Zentraldatei nicht mehr feststellen kann, dass ein Flüchtling über Italien eingereist ist. Die flüchtlingsarmen Zeiten für Deutschland sind deshalb vorbei - und es zeigt sich jetzt in beklemmender Deutlichkeit, dass sich die deutsche Politik 20 Jahre lang auf die faule Haut gelegt hat.

Jetzt muss man wieder über die Konzepte und Vorschläge reden, über die man schon vor 20 Jahren hätte reden können: über die Eröffnung legaler Zugangswege nach Europa; also über eine Einwanderung nach einem Punktesystem; und über Aufnahmequoten in den einzelnen EU-Staaten, die sich an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft orientieren. Im "Manifest der 60" stand folgender Vorschlag: "Einwanderer haben ihre Anträge grundsätzlich vom Ausland aus zu stellen. Übersteigt die Zahl der Anträge das vorgesehene Kontingent, so muss über ein Punktesystem nach den Kriterien Herkunft, Qualifikation und Alter der Bewerber gewichtet werden. Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, sollen erst nach einer angemessenen Frist als Einwanderer Berücksichtigung finden".

Die EU-Konferenz im finnischen Tampere vor 14 Jahren hat ein Modell der "Festung Europa" mit Zugbrücken präsentiert. Die Zugbrücken wurden aber nie heruntergelassen. Mit einer "Aktion Zugbrücke" könnte eine vernünftige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik beginnen.


Heribert Prantl
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Prof. Dr. Heribert Prantl lehrt als Honorarprofessor für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Er hat Recht, Geschichte und Philosophie studiert, parallel dazu eine journalistische Ausbildung gemacht und im Urheberrecht promoviert. Bevor er 1988 als rechtspolitischer Redakteur zur SZ ging, war er Staatsanwalt und Richter in Bayern - und hat dort alles verhandelt, was es in der Juristerei so gibt, Ehesachen ausgenommen. Er liebt die Musik seines oberpfälzischen Landsmanns Christoph Willibald Gluck. Wenn er die hört, legt er Romane, Geschichtsbücher, die "Reine Rechtslehre" und sogar die Süddeutsche Zeitung beiseite.


last updated october 2013